Rhabarber

Auf den Britischen Inseln gibt es ein Bonbon käuflich zu erwerben, das gleichzeitig mit der frischen Säure und dem einmaligen Geschmack von Rhabarber sowie mit der süßlich-milden Note von Vanillepudding kommt. Im Mund schmelzen diese Attribute dann als „Rhubarb & Custard“ zu einem wunderbaren Gesamtaroma zusammen. Die Engländer lieben ihren Rhabarber also völlig zu Recht – und wir natürlich auch!

Spätzünder

In der Kulturgeschichte passiert es eigentlich ziemlich selten, dass eine an und für sich gute Entdeckung – sei es nun ein Gedanke oder eine essbare Pflanze – Tausende von Jahren braucht, bis sie sich endgültig rumgesprochen hat und auch überall genutzt wird. Der Rhabarber ist ein gutes Beispiel für dieses rare Phänomen, denn obwohl die Pflanze, die aus dem Himalaya stammt und schon sehr früh rund ums Schwarze Meer angebaut wurde, seit mindestens 4.000 Jahren fester Bestandteil zum Beispiel der traditionellen chinesischen Medizin ist, kam sie in unseren Breiten wirklich so gar nicht in Schwung.

Allerdings kann man der Rhabarberpflanze das auch nicht wirklich vorwerfen, denn mit ihren ausgeprägten Bitterstoffen und ihrer geradezu legendären Säure bekommt man sie ohne weitere Zusätze weder roh noch gekocht gut runter – und weil sie einen Stoff namens Anthrachinon enthält, der die Darmtätigkeit anregt, kann ihr Genuss darüber hinaus auch noch eine leicht abführende Wirkung entfalten. Ganz abgesehen von ihrem hohen Gehalt an Oxalsäure, die calciumzehrend wirkt und die Nieren- oder Gallenkranke und Kinder nach Möglichkeit meiden sollten.

Auf jeden Fall weiß jedes Kind, dass der Blattstiel, selbst wenn er gut geschält ist, sehr, sehr intensiv sauer und bitter schmeckt und dass Rhabarber ohne die Zugabe von Zucker nicht so lecker ist.

Brrrr

Und genau das ist wohl der Grund, warum es das Knöterichgewächs in unseren Breiten so schwer hatte. Klar, bei Medizin ist man es ja irgendwie gewohnt, dass sie oft scheußlich schmeckt, aber zum reinen Vergnügen setzt man sich diesen Geschmackserlebnissen ganz sicher nicht aus. Denn selbst als der wirklich gesunde Rhabarber endlich Mitteleuropa erreichte, wurde er zunächst nur als das bekannt, was er woanders längst schon war: Medizin.

Na endlich

Angebaut wurde er ab dem 16. Jahrhundert in Russland und verbreitete sich nach und nach, bis er im 18. Jahrhundert über Frankreich und die Niederlande im Jahr 1753 England erreichte.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wird es kulturgeschichtlich noch mal interessant, denn seinen Durchbruch als Kompott, Konfitüre, Kuchen oder auch Saft erlebte Rheum rhabarbarum, wie er wissenschaftlich genannt wird (wobei „rheum“ für Wurzel steht und „barbarus“ schlicht für ausländisch), genau zu der Zeit, als endlich die Zuckerpreise fielen, weil der industriell gefertigte Zucker erfunden worden war.

Oder auch so

Die einfallsreichen Engländer hatten der Intensität der Pflanze allerdings schon den Kampf angesagt, bevor der Billigzucker verfügbar wurde. Sie waren darauf gekommen, dass junge Pflanzen, die vollkommen im Dunkeln und bei recht hohen Temperaturen aufgezogen wurden, deutlich milder im Geschmack und zarter im Fruchtfleisch waren, wenn man den Blattstiel mal so nennen will. Oder anders gesagt: Sie verpassten dem Rhabarber deutlich weniger Säure und Bitterkeit und brachten auf diese Weise seinen Eigengeschmack viel mehr heraus. Das taten sie übrigens mit ziemlichem Erfolg: Der „Yorkshire Forced Rhubarb“ wurde 2010 durch die Europäische Union als schützenswerte lokale Besonderheit anerkannt und darf seither als Erzeugnis mit geschützter Ursprungsbezeichnung vermarktet werden.

Triebtäter

Aber warum genau eigentlich Yorkshire, wo doch hier außer York, „Der Doktor und das liebe Vieh“ und den atemberaubenden Pennines im Grunde nichts weiter zu finden ist? Sehen wir uns den „Treibrhabarber“ bzw. seine Produktion mal genauer an, dann wird das schon klarer:

Die Pflanzen für Forced Rhubarb werden zunächst im Freiland kultiviert. Die Schwerindustrie in der Region brachte Ruß und Asche mit sich; wurden diese auf die Felder ausgebracht, sorgten sie zuverlässig dafür, dass die oberirdischen Pflanzenteile im Herbst frühzeitig abstarben. Das verlängerte die natürliche winterliche Ruheperiode der Pflanze und begünstigte den späteren Frühaustrieb des Rhizoms in der Halle. Auch die Schwefelablagerungen im Boden waren für den Rhabarberanbau förderlich. Eine weitere lokale Besonderheit war und ist das Düngen mit Wollstaub (Shoddy), einem organischen Düngemittel, das als Abfallprodukt bei der Wollproduktion entsteht.

Auch die übrigen Umweltbedingungen sind für den Rhabarber in Yorkshire besonders günstig, denn sie bieten den Pflanzen – wer hätte das gedacht? – viel Regen, wasserspeichernde Böden und eine lange Kälteperiode, in der kein Wurzelwachstum stattfindet. Diese vergleichsweise lange Zeit der Pflanzenruhe ermöglicht es den Bauern, die Ruhezeit frühzeitig und schadlos zu unterbrechen, den Beginn der natürlichen Vegetationsperiode künstlich vorzuverlegen und den Rhabarber vorzeitig zum Austreiben zu bewegen.

Und dann ist da noch die Steinkohle. Die Rhabarberpflanzen wurden sozusagen vor ihrer Zeit ohne Sonnenlicht zum Austreiben bleicher und damit zarter und geschmacksintensiver Stangen gebracht, was allerdings nur durch ihre Kultivierung in geheizten Kästen gelang – und das war durch die insbesondere in dieser Gegend reichlich verfügbare preisgünstige Kohle kein Problem.

Volltreffer

Der Vorteil des Vorverlegens war, dass Rhabarber – zu einer Zeit, in der Kühlung zur Konservierung nur sehr bedingt verfügbar war – über einen wesentlich längeren Zeitraum als frisches Produkt vermarktet werden konnte. Noch bis in die 1930er-Jahre wuchs die Rhabarberproduktion in der Gegend so stark an, dass rund 90 % (!) des weltweit (!) produzierten Rhabarbers von den etwa 200 Anbaubetrieben im nordenglischen Rhabarberdreieck stammten. Sogar ein „Rhabarberexpress“ brachte die Stangen bis in die 1960er-Jahre hinein über Nacht von Wakefield zu den Londoner Märkten.

Allerdings ging die Nachfrage nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst so stark zurück, dass sich in dem berühmten „Rhubarb Triangle“ (ca. 23 Quadratkilometer groß und in etwa zwischen Leeds, Wakefield und Bradford in West-Yorkshire gelegen) nur noch etwa 20 Betriebe dem Rhabarberanbau widmeten. So ungefähr seit dem Jahr 2000 kam es jedoch allmählich zu einer Renaissance des Rhabarbers als beliebtes Lebensmittel – das zeigt sich auch in dem jährlich stattfindenden „Festival of Food, Drink and Rhubarb“ in Wakefield, den nationalen Rhabarberpflanzensammlungen in den Gärten der Royal Horticultural Society von Wisley und Harlow Carr oder im Garten des National Trust for Scotland bei Kellie Castle.

Und sonst?

Rhabarber gilt als gesundes Gemüse, das in privaten Haushalten und zunehmend auch in vielen Rezepten prominenter Köche Verwendung findet – und zwar nicht nur als Dessert oder Süßspeise, sondern auch als Beilage oder aromatische Zutat zu Fleisch und Fisch. Und ja: Botanisch gesehen ist Rhabarber ein Gemüse. Nur die USA sehen das Ganze vollkommen anders und bezeichnen den Rhabarber bereits seit 1947 allen Ernstes als Obst (wahrscheinlich, weil sie denken, dass etwas so Saures nur so gesund wie Obst sein kann) ...

Die Ernte von im Freiland gezogenem Rhabarber beginnt typischerweise ungefähr im April und die Saison endet exakt am selben Tag wie die unseres Spargels: am Johannistag, also am 24. Juni eines jeden Jahres.

Und nur damit Sie sich eine Vorstellung machen können: Unser „Yorkshire Forced Rhubarb“ ist meist schon von Januar bis März verfügbar – manchmal ist die Saison auch noch länger. Im Handel wird er dann aber endgültig spätestens im April durch den Freilandrhabarber abgelöst.

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