Das Leipziger Allerlei - eine Entstehungsgeschichte

Um das Leipziger Allerlei möglichst gut zu verstehen, nähern wir uns dem Thema am besten aus drei Richtungen, nämlich aus einer geografischen, einer klimatologischen und einer historischen.

Das konnte nur aus Leipzig kommen

Stadt – Land – Fluss

Leipzig – und die die Stadt umgebende Landschaft natürlich auch – liegt in der „Leipziger Tieflandsbucht“, einer Gegend, die sich grob gesagt zwischen Berlin und Dresden befindet und die zwar wenige Wälder und Seen hat, dafür aber über ausgesprochen fruchtbare, lösshaltige Böden verfügt. Darüber hinaus findet sich hier auch der „Leipziger Gewässerknoten“, also der wie ein inländisches Flussdelta mäandernde Zusammenfluss von Weißer Elster, Pleiße und Parthe, der nicht nur große Auwälder entstehen ließ, sondern insgesamt für gute Bodenfeuchte und für kristallklare Flussabschnitte sorgt.

Die Gegend liegt im Übergangsbereich zwischen dem ozeanischen Klima Westeuropas und dem kontinentalen Klima des Ostens, was zu relativ mildem, gemäßigtem und für die Landwirtschaft insgesamt günstigem Wetter führt. Die Folge: Ackerbau wurde hier schon seit grauer Vorzeit im relativ großen Stil betrieben.

Allerlei Leipzig

Seit jeher kreuzten sich bei Leipzig zwei bedeutende kontinentale Handelsrouten, nämlich eine von West nach Ost und eine von Süd nach Nord, sodass sich Leipzig nicht nur zur bedeutenden Handelsmetropole entwickelte, in Sachen Buchhandel erstklassig und die wahrscheinlich erste Messestadt der Welt wurde – Leipzig war auch ein wichtiges kulturelles, intellektuelles und politisches Zentrum. Oder anders gesagt: Leipzig war eine wirklich wichtige, wirklich reiche Stadt.

Kein Wunder, dass ein Ort dieser Qualitäten und Vorzüge schon immer Begehrlichkeiten von Herrschern, Kriegern und Politikern weckte und entsprechend oft den Besitzer – oder, je nachdem, den Besatzer – wechselte.

Im Leipziger Allerlei kommen all diese Aspekte auf die eine oder andere Weise zum Tragen, denn bei derart günstigen Bedingungen gediehen nicht nur die schönsten Gemüse in Hülle und Fülle auf den Feldern, die Auwälder strotzten nur so von köstlichen Pilzen und in den Flüssen tummelten sich Flusskrebse in derart rauen Mengen, dass sie (ebenso wie das Allerlei an sich) sehr schnell zum Arme-Leute-Essen avancierten.

Der konnte nur bis Leipzig kommen

Alle gegen einen

Fehlt nur noch die Sache mit dem Reichtum und der Historie der Stadt: Leipzig war sehr wohlhabend und hatte gewaltiges Potenzial, um die Stadt wurden Schlachten geschlagen und Kriege geführt. Die bekannteste von all diesen kriegerischen Auseinandersetzungen dürfte wohl die Völkerschlacht von Leipzig im Jahr 1813 sein, bei der das napoleonische Heer vernichtend von sozusagen dem gesamten Rest Europas geschlagen wurde und die dazu führte, dass Napoleon Bonaparte quasi mit eingezogenem Schwanz schnellstens verschwinden musste. (Etwas später wurde er zur Belohnung für seinen militärischen Übermut erst einmal auf die Insel Elba verbannt.)

Für uns sind allerdings zwei ganz andere Dinge von Bedeutung, schließlich haben wir ja über ein Tellergericht und nicht über Weltgeschichte zu reden. Als die Völkerschlacht nach drei Tagen am 19. Oktober 1813 geschlagen war und der Verlierer feststand, waren erstens 92.000 Soldaten tot oder verletzt und zweitens brauchten die Sieger unbedingt frisches Geld, um ihre gewaltigen Kriegsanstrengungen irgendwie zu refinanzieren. Und was lag da näher, als sich die reiche Stadt in direkter Nähe zum Schlachtfeld einmal etwas genauer anzusehen ... Und die Verwundeten? Wurden, wenn sie das Ganze überhaupt irgendwie überlebten, sehr schnell zu bettelnden Habenichtsen, die die Passanten auf den Straßen und Plätzen um eine milde Gabe anflehen mussten.

Kommen wir nun zum Gericht

Leipziger Allerlei

Die Oberhäupter der Stadt Leipzig wollten nun aber weder gierige Regenten noch hungrige Kriegsversehrte in der Stadt haben, und so kamen sie auf den irgendwie genialen Gedanken, Leipzig – zumindest für vorübergehende Besucher – arm zu rechnen: Fragten die hohen fremden Herren, allen voran die verhassten Steuereintreiber, nach einem feinen Mahl, so wurde ihnen ein Gemüsesüppchen mit ein bisschen Spargel, ein paar Karotten, Erbsen und Blumenkohl kredenzt mit dem Kommentar: „Mehr haben wir nun mal einfach nicht.“ Nur an Sonntagen gab es ein bisschen was obendrauf, aber auch die Beilage musste den gaumenverwöhnten Herrschaften überaus schal erschienen sein. Und die Bettler? Bekamen nur die Brühe und nicht einmal das Gemüse dazu.

Zitieren wir an dieser Stelle den Stadtschreiber Malthus Hempel, der 1815 schrieb: „Verstecken wir den Speck und bringen nur noch Gemüse auf den Tisch, sonntags vielleicht ein Stückchen Mettwurst oder ein Krebslein aus der Pleiße dazu. Und wer kommt und etwas will, der bekommt statt Fleisch ein Schälchen Gemüsebrühe und all die Bettler und Steuereintreiber werden sich nach Halle oder Dresden orientieren.“

Namensrecht

Ob das in Summe zum gewünschten Ergebnis geführt hat, ist leider nicht genau überliefert, sicher aber ist, dass diese wunderbare Gemüseplatte mit Morcheln, Flusskrebs und einer leichten, hellen Soße dermaßen berühmt und auch über die Stadtgrenzen hinaus beliebt wurde, dass sie kurzerhand den Namen der Stadt verpasst bekam.

Und so schließt sich der Kreis: Gemüse und Pilze aus dem richtigen Boden in einer flussreichen Gegend voller Krebse, die im idealen Klima liegt und für die sich immer wieder mal die Falschen interessiert haben, haben sich – zumindest wenn man all das da oben genau glauben will – zu einer kulinarischen Delikatesse gemausert, die mit dem widerlichen Gemüsematsch aus dem Glas wirklich überhaupt nichts gemein hat.